Bruder im Geiste Willie Nelsons
Tim Mc wer? Der Country-Superstar, den hier niemand kennt
Tim McGraw.
Quelle: picture alliance / Dara-Michelle Farr/AdMedia /Medi
In den USA verkauft Tim McGraw Millionen Platten, Taylor Swift widmete ihm einen Song. In Deutschland hört man dagegen wenig von ihm. Zu Unrecht. Der Countrystar bricht mit so ziemlich jedem Klischee, das es über Countrymusik gibt. Nun erscheint sein 16. Album.
Wenn Tim McGraw auftritt, vermeidet er es, vorher etwas zu essen. Wie ein hungriger Löwe will er sich bei seinen Konzerten fühlen, sagt er. McGraw füllt in den USA Stadien, und er schafft das mit Countrymusik. Einer Countrymusik, in der zwar zuweilen die Lap-Steel-Gitarren weinen, in der aber auch Rock ‘n‘ Roll zu finden ist. Dieser Tage erscheint ein neues Album des 56-Jährigen. Es heißt „Standing Room Only“ – nur Stehplätze übrig. Klingt eher nach Club als Stadion.
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Otto Normalpopfan hat von Tim McGraw nie gehört
Tim Mc wer? Natürlich kennen die deutschen Hardcore-Countryfans den Sänger, und auch bei Taylor-Swift-Fans klingelt was (wovon später noch die Rede sein soll). Otto Normalpopfan hingegen zuckt mit den Schultern. Nie gehört. Im Land von schlagerhaften Countrykünstlern wie Bruce Low, Gunter Gabriel, Truck Stop und dem recht hart rockenden Feinrippteam Boss Hoss haben die Alben des 56-jährigen McGraw bis heute nie gechartet.
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In Deutschland wurde McGraw durch die Serie „1883“ bekannt
In Deutschland wurde McGraw erst in diesem Jahr breiter bekannt – aber nicht als Sänger, sondern als Schauspieler in der Hauptrolle der grandiosen Westernserie „1883“. Dort spielt er den einstigen Konföderiertencaptain James Dutton, der sich mit Frau – gespielt von seiner tatsächlichen Ehefrau, der ähnlich erfolgreichen Countrysängerin Faith Hill –, Tochter und Sohn in Texas einem Treck deutscher und osteuropäischer Siedler nach Oregon anschließt. Durch tragische Umstände landen die Duttons in Montana, wo James die Ranch gründet, die der Mutterserie „Yellowstone“ den Namen gab.
McGraw, selbst Vater dreier Töchter, war anrührend als harter Westmann und verständnisvolles Familienoberhaupt, für einige Szenen brauchte es Taschentücher. Man hat ihn jetzt also auf dem Schirm, und so könnten beim 16. Studioalbum nun einige Deutsche mehr auch neugierig auf die Musik dieses Mannes sein, der in Amerika seit Mitte der Neunzigerjahre ein Superstar ist.
Auch Johnny Cash und Willie Nelson waren bei uns erst mit ihrem Alterswerk erfolgreich
Fast 40 Millionen Alben hat er zu Hause verkauft. Dass in Deutschland alles gemächlicher für diese amerikanische Volksmusik läuft, davon konnte schon Johnny Cash ein Lied singen, von dem nicht einmal das legendäre Gefängnis-Livealbum „At Folsom Prison“ (1968) die deutschen Hitparaden touchierte und erst das Alterswerk nennenswert verkaufte.
Gleiches gilt für den heute 90-jährigen Country-Outlaw Willie Nelson, der zum ersten Mal 2009 mit „American Classic“ Chartskontakt hatte – allerdings war das, was auf Platz 96 landete, ein Ausflug Nelsons in den Sinatra-Jazz.
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Musikratgeber: McGraw liefert Ermutigungssongs für Krisenzeiten
„Standing Room Only“ startet mit Uptempo, einer knurrigen E-Gitarre. Jammern und Stolz helfen keinem weiter, singt McGraw im Eröffnungssong „Hold on to It“. Man soll an den Menschen festhalten, die einen Platz im Herzen besitzen, die großartigen Momente in Ehren halten, die Hand des oder der Liebsten in harten Zeiten festhalten und die Liebe nicht aufs Spiel setzen. Lyrisch ist das – zugegeben – gefühlsduselig, aber mit seinem Druck, seinem Rock-‘n‘-Roll-Schmackes, ist das Stück doch eine Ecke weg von klassischem Geschlechterschmalz, wie es etwa Tammy Wynettes Unterwerfungssong „Stand by Your Man“ war.
Carpe diem, heißt McGraws Vorschlag. „Standing Room Only“ ist überhaupt ein Ratgeber in Musik, ein bilanzierendes Lebensmittealbum. Die Songs sind dabei nicht selbst verfasst, sondern dem Sänger quasi aufs Leben geschrieben.
Im Titelstück würde er „gern ein Leben führen, als ob mich der Dollar und die Uhr an der Wand nicht in Besitz hätten“, er würde gern mit dem Vergeben und Vergessen anfangen und „jemand sein, der der Erinnerung wert ist, das Leben so leben, dass, wenn ich sterbe, nur noch Stehplätze übrig sind“. Der „Standing Room“ des Lebensendes ist also nicht der Club, sondern die Friedhofskapelle.
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Tequila und Whisky? – Tim McGraw ist trocken
Nicht alle Tipps hier würde er selbst befolgen. Dass Tequila dunkle Wolken verscheucht, erzählt McGraws lyrisches Ich einer einsamen Frau, die in der Tiki-Bar mit Papierschirmchen spielt. Auch in „Remember Me Well“ ist Tequila im Spiel, und in „Fool Me Again“ erinnert McGraw an den alkoholsüchtigen Keith Whitley, sein musikalisches Idol, an dessen Todestag, dem 9. Mai 1989, McGraw der Legende nach in Richtung Nashville aufbrach, um selbst berühmt zu werden.
Auch McGraw hatte ein Alkoholproblem. Als er eines Tages schon morgens um 8 Uhr im Haus zur „Quelle“ schlich, um sich einen Doppelten zu genehmigen, merkte er, dass er ein Problem hatte. Seine Frau habe ihn gerettet, sagt er. Dass es böse mit ihm hätte enden können, deutet der Song „Hey Whiskey (What‘d I Ever Do to You)“ an.
Erst spät erfuhr McGraw von seinem berühmten Vater
McGraw wuchs in Delhi auf, ein 2600-Seelen-Städtchen im Nordwesten des US-Bundesstaats Louisiana, das in den Vierzigerjahren eine Rolle beim Methangasboom gespielt hatte. Als er elf Jahre alt war, erfuhr er, dass sein Vater der bekannte Baseballstar Tug McGraw von den New York Mets war. Aber erst als er 18 Jahre alt war, bekannte sich der Sportler zu seinem Sohn.
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Und sie wurden Freunde und blieben es, bis Tug 2004 starb. Was viele aus Tim McGraws Umfeld ob der schwierigen Vorgeschichte nicht verstanden. „Er gab mir einen Traum, was aus mir werden könnte“, erklärte McGraw in einem Interview. „Das gab mir etwas in meinem kleinen Städtchen in Louisiana.“
Die Kleinstadt besingt der Demokrat McGraw mit Sympathie
Das „kleine Städtchen“ besingt McGraw mit Sympathie in „Small Town King“. Sein Held ist der typische Republikaner wählende „John-Deere-Reiter“ mit dem Kämpferherz. Der Song übers Sozialgefüge auf dem Lande ist nicht so ironisch wie John Mellencamps „Small Town“, aber weit entfernt von der reaktionären Gewaltandrohung und dem kaum verhohlenen Rassismus, wie sie der zehn Jahre jüngere Jason Aldeans erst vor ein paar Wochen im kontrovers diskutierten Countryrocker „Try This in a Small Town“ äußerte.
Denn McGraw ist entgegen dem Klischee von Countrymusik als ewigem musikalischen Quell des Konservativismus ein Anhänger der Demokratischen Partei, ein Bruder im Geiste von Dolly Parton, Willie Nelson und Kris Kristofferson. Er hat sich in zwei Wahlkämpfen für Barack Obama eingesetzt, sich eindeutig für LGBTQ+-Rechte ausgesprochen, strengere Waffengesetze eingefordert und sich immer wieder gegen Rassismus geäußert.
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„Ein furchtbar trauriger Tag für Amerika“, twitterte er am Dreikönigstag 2021, als der Unpräsident Trump seinen Mob Richtung Kapitol schickte, um die amerikanische Demokratie zu stürzen.
Nicht alle gesteckten Ziele wird er erreichen. „Alles, was ich sein will, ist Bruce Springsteen“ erzählte er beispielsweise dem „Boss“, als er ihn 2021 für Apple Music interviewte. Mit „Some Songs Change Your World“ hat er immerhin eine sehr springsteeneske Ballade auf „Standing Room Only“. Im Text versucht der Protagonist, das Mädchen mit seinem besten James-Dean-Bruce-Springsteen-Gehabe herumzukriegen, nur um festzustellen, dass Posen ihn amourös nicht weiterbringen.
„Things Change“ – In Nashville ist Rock erlaubt, die Scorpions spielten in der Grand Ole Opry
Das Lied endet mit einem sehr ausladenden E-Gitarren-Solo. Die Zeiten, in denen man in Nashville für Schlagzeug und E-Gitarre aus der dienstältesten US-Radioshow Grand Ole Opry geworfen wurde, sind lange vorbei – McGraw besingt das in einem älteren Song, „Things Change“ von 2001, erinnert an Elvis, dessen sexy Hüftschwung von Nashville nicht verziehen wurde.
Und zitiert im Booklet des zugehörigen Albums „Set This Circus Down“ den griechischen Philosophen Aristoteles: „Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anders setzen.“ Inzwischen spielten sogar die Scorpions ihren Metal in der Opry.
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In Deutschland ist McGraw in 30 Jahren noch nie aufgetreten
Vielleicht setzt McGraw, der Nachfahre deutscher Einwanderer aus Rheinland-Pfalz, ja endlich mal die Segel Richtung Deutschland, wo er in den 30 Jahren seiner Karriere noch nie live gespielt hat. Vielleicht bringt er seine Frau Faith Hill gleich mit, die 2003 immerhin schon einmal bei „Wetten, dass ...?“ zu Gast war.
Taylor Swift könnte die beiden „Duttons“ nächstes Jahr ja mit auf Schalke nehmen, wo sie im Juli drei Konzerte gibt. Sie liebt McGraws Musik schon immer, und ihre erste Single, erster Song auf ihrem Debütalbum von 2006, hieß „Tim McGraw“. Es geht darin um das absehbare Ende einer Sommerromanze und darüber, dass Erinnerung an Liebe oft über Musik läuft: „Wenn du ‚Tim McGraw‘ denkst“, singt Swift, „hoffe ich, du denkst an mein Lieblingslied, das, zu dem wir die ganze Nacht getanzt haben. Wenn du ‚Tim McGraw‘ denkst, denkst du hoffentlich an mich.“
Klar, dass das ein Countrysong ist.